Schweiz. Die Löhne als Kernfrage der AHV

07 Sep 2022

Von Benoit Blanc

«Kein Klassenkampf auf dem Buckel der AHV» (NZZ, 24.08.2022): Die Neue Zürcher Zeitung, die kompromisslos die Interessen der Unternehmer und Vermögenden vertritt, spart nicht mit grossen Worten. Die Gewerkschaften würden vor der Abstimmung vom 25. September einen regelrechten «Klassenkampf» führen, um einen «Ausbau der AHV» durchzusetzen. Dabei würden sie eine offensichtliche Tatsache ignorieren: «Früher oder später müssen wir länger arbeiten.»

Wie allseits bekannt, führen die Schweizer Gewerkschaften seit Jahrzehnten einen erbarmungslosen Krieg gegen die armen Arbeitgeber, welche sich doch nur bemühen, der wirtschaftlichen Vernunft Gehör zu verschaffen und ihre bescheidenen Interessen anzumelden…

Soweit das Märchen, aber kommen wir zu den Fakten: 1991 besassen 7393 Personen in der Schweiz ein deklariertes Nettovermögen von mindestens 5 Millionen Franken und hielten ein Gesamtvermögen von 101.9 Milliarden Franken. 0.3% der Steuerpflichtigen verfügten also über 19.2% des deklarierten Vermögens! Schaut man sich im Jahr 2018 die (41’972) Steuerpflichtigen mit einem Nettovermögen von mindestens 5 Millionen Franken an, so stellt man fest, dass deren Nettovermögen um das Achtfache (!) gestiegen ist: Das entsprechende Gesamtvermögen beträgt nun 816.6 Milliarden Franken. 0.8% der Steuerpflichtigen besitzen 40.7% des deklarierten Vermögens.

Es gibt tatsächlich einen Klassenkampf in der Schweiz. Aber im Moment stehen nicht die Beschäftigten, sondern die Vermögenden auf der Gewinnerseite – trotz gewerkschaftlicher Aktivitäten und trotz dem feministischen Streik vom 14. Juni 2019, der Lohngleichheit und eine Aufwertung der schlecht bezahlten, sogenannten Frauenberufe forderte.

Drei Jahrzehnte Lohnabbau

Auch die Entwicklung der Löhne bestätigt diese Tatsache. Hierfür ist die Arbeitsproduktivität eine wichtige Grösse: Die Arbeitsproduktivität misst die in einem bestimmten Zeitraum erzielte Wertschöpfung. Steigt die Arbeitsproduktivität, so nimmt auch die Wertschöpfung zu, die in Form von Einkommen verteilt werden kann. Steigen die Löhne gleich schnell wie die Arbeitsproduktivität, so bleibt die Verteilung der Wertschöpfung mehr oder weniger unverändert. Hinkt der Anstieg der Löhne der Entwicklung der Arbeitsproduktivität hinterher, so erhalten die Beschäftigten einen kleineren Anteil der Wertschöpfung, während dem Kapital ein höherer Anteil zufliesst.

Die traditionelle Lohnforderung gemässigter Gewerkschaften lautet, dass Produktivitätsgewinne «geteilt» werden müssen: Dass also die Löhne im gleichen Masse wie die Produktivität steigen müssen. Diese Forderung ändert an den bestehenden Einkommensungleichheiten nichts, sondern sorgt lediglich dafür, dass sich die Ungleichheit nicht noch verschärft. Sie bedeutet keinesfalls eine – an sich notwendige – Umverteilung des Wohlstands oder ein Mitspracherecht über Ziele und Methoden der Produktion – was eine grundlegende demokratische Forderung wäre, insbesondere angesichts der aktuellen Klimakrise. Dass Produktivitätsgewinne geteilt werden sollen, ist alles andere als eine radikale Forderung.

Schauen wir die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte in der Schweiz an:

  • Von 1993 bis 2020 ist die Arbeitsproduktivität pro Stunde [1] inflationsbereinigt um 38% gestiegen. Dies entspricht einem jährlichen Anstieg von 1.2%.
  • Im selben Zeitraum stiegen die Reallöhne (inflationsbereinigt) um 16% [2], was einem jährlichen Lohnanstieg von knapp 0.6% entspricht. Die Hälfte der Produktivitätssteigerung aus der Arbeit der Beschäftigten wurde ihnen also Jahr für Jahr entrissen.
  • Wenn die Reallöhne mit der Produktivität Schritt gehalten hätten, wären sie um ein Fünftel höher. Nehmen wir an, der Monatslohn für eine bestimmte Stelle beträgt im Jahr 1993 5000 Franken. Im Jahr 2020 verdient eine Person mit diesem Job inflationsbereinigt 5800 Franken im Monat. Wäre der Lohn jedoch im Einklang mit dem Produktivitätsanstieg angehoben worden, so müsste der Monatslohn im Jahr 2020 6900 Franken betragen. Dies bedeutet einen Kaufkraftverlust von 1100 Franken pro Monat. So geht echter Klassenkampf!
Auswirkungen auf die Renten

Was bedeutet dieser Lohnabbau für die AHV?

  • Wären die Löhne entsprechend der Produktivitätssteigerung erhöht worden, so hätte die AHV allein im Jahr 2020 6 Milliarden Franken mehr an Lohnbeiträgen eingenommen: 40 statt 34 Milliarden Franken! Über den gesamten Zeitraum von 1993 bis 2020 hätte die AHV 70 Milliarden Franken an zusätzlichen Einnahmen aus Lohnbeiträgen erhalten. Dies entspricht 150% der Ausgaben der AHV im Jahr 2020. Damit wäre die groteske Debatte über die «finanzielle Stabilität» der AHV beendet und es wäre endlich möglich, die richtigen Fragen zu stellen: Wie können existenzsichernde Renten garantiert werden? Und ein Rentenalter, das die Belastungen bei der Arbeit berücksichtigt?
  • Wenn es den Beschäftigten gelingt, einen Lohnanstieg entsprechend dem Produktivitätswachstum durchzusetzen, werden die Einnahmen der AHV im Zeitraum 2023–2032 um 15 Milliarden Franken höher ausfallen als vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) prognostiziert. Dies entspricht dem kumulierten Defizit, das vom BSV in seinen Szenarien geschätzt wird. Wobei diese Szenarien in der Regel auf fragwürdigen Worst-Case-Annahmen basieren.
Löhne und AHV gemeinsam verteidigen

Der Kampf um die Löhne wird in den nächsten Monaten und Jahren besonders hart. Grossunternehmen nutzen die Situation infolge des Krieges in der Ukraine aus, um ihre Preise – und Profite – aufzublähen. Was die Zentralbanken «Kampf gegen die Inflation» nennen, scheint in Wahrheit ein Kampf gegen die Beschäftigten und ihr Einkommen zu sein. Abgesehen von Nebelpetarden im Dienste der Reichen und Vermögenden wird sich der reale Klassenkampf verschärfen. Eine wirksame Gegenwehr der Beschäftigten muss erst noch aufgebaut werden.

Eines ist sicher: Faktisch sind die verschiedenen Generationen von Arbeitnehmenden durch das Band der Solidarität verbunden. Es gilt, die Löhne und die AHV gemeinsam zu verteidigen. Die Kreise, die die AHV schwächen und das Rentenalter der Frauen erhöhen wollen, sind auch beim Lohnabbau an vorderster Front involviert. Die nächste Etappe in diesem Kampf ist der 25. September: NEIN zu AHV21! (30. August 2022)

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[1] Die hier verwendeten Daten basieren auf dem Indikator der Arbeitsproduktivität, der auf der Website des Bundesamtes für Statistik (BFS) wie folgt beschrieben wird: «Die Arbeitsproduktivität misst die Effizienz, mit der die personellen Ressourcen im Produktionsprozess eingesetzt werden. Sie ist eines der gebräuchlichsten Produktivitätskonzepte für makroökonomische Analysen. Dabei wird zwischen der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität und jener des Businesssektors unterschieden. Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für das Wirtschaftswachstum und stellt deshalb für die Wirtschaftspolitik einen wichtigen Indikator dar. Sie ist eng mit dem Begriff des Einkommens und dem Lebensstandard eines Landes verknüpft. Man geht davon aus, dass eine starke Produktivitätssteigerung über einen längeren Zeitraum via Verteilungstransaktionen zu einer Zunahme der Einkommen und des Lebensstandards eines Landes führen kann.»

[2] Der Preisindex bildet insbesondere die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge sehr schlecht ab. In Wirklichkeit ist die Kaufkraft also weniger gestiegen als in unserer Annahme. Wenn man ausserdem das verfügbare Einkommen betrachtet, nach Abzug der obligatorischen Ausgaben (Miete, Steuern, obligatorische Versicherungen), ergibt sich ein noch schlimmeres Bild.